In Zusammenarbeit mit der Stadt und der Wer denkt was GmbH hat die Projekt-Stadt in Friedberg aus der Virus-not eine Tugend gemacht: innerhalb von nur vier Wochen entstand ein interaktives Beteiligungsformat im Internet. die Partizipation der Bevölkerung war rege, die Resultate überzeugend.
Kommunale Projekte geraten dieser Tage vermehrt ins Stocken, weil die vorgeschriebene – und gewünschte – Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger schlicht nicht realisierbar ist. In Corona-Zeiten verbieten sich Versammlungen, Foren, Diskussionsveranstaltungen, Workshops und Stadtteil-Spaziergänge. Die Wetterauer Kreisstadt Friedberg hingegen ist mit einem Online-Format dennoch einen großen Schritt weitergekommen. Nicht weniger als 116 Ideen, 109 Kommentare und 186 Bewertungen sind das stolze Ergebnis der Partizipation auf der Internet-Plattform. Sie ersetzte ein ausgefallenes Bürgerforum, denn auch in Pandemiezeiten sollte die Bevölkerung an der Planung für die Konversion der ehemaligen amerikanischen Militäransiedlung Ray Barracks einbezogen werden.
Bürgermeister Dirk Antkowiak freut sich über die Resonanz: „Das ist ein wertvoller Input für die weiteren Planungen und zeigt, dass den Friedbergern die Zukunft unseres Kasernengeländes am Herzen liegt. Durch ihr Mitwirken machen sie den Planungsprozess zu einem lebendigen Dialog.“ Marius Becker, verantwortlicher Moderator der Projekt-Stadt, der Marke, unter der die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte Wohnstadt (NHW) ihre Stadtwicklungskompetenzen bündelt, ergänzt: „Die Zahlen belegen eindeutig, dass trotz Corona und Kontaktbeschränkungen ein virtueller Dialog zwischen Stadt und Bürgerschaft entstanden ist.“
Darüber hinaus, so Beckers Überzeugung, habe der netzbasierte Dialog „ein noch breiteres Spektrum an Meinungen und Ideen“ eingebracht als vergleichbare Offline-Formate. Online äußerten sich auch jene, die sich in öffentlichen Veranstaltungen sonst eher zurückhielten oder gleich ganz fernblieben. Zudem nutzten Zielgruppen wie Jugendliche oder Familien das Online-Angebot eher. Daher empfehle sich ein solcher crossmedialer Einsatz verschiedener Kanäle und Formate auch in Zeiten ohne Pandemie.
Dank des Projekt-Stadt-Partners Wer denkt was, Darmstadt, ging in Friedberg nach nur vier Wochen Entwicklungszeit die Plattform online. 14 Tage lang konnten die Bürger sich anmelden und Vorschläge, Anmerkungen und Kommentare zu einer von der Bauland-Offensive Hessen erarbeiteten Machbarkeitsstudie abgeben.
Theresa Lotichius, Geschäftsführerin von Wer denkt was, zum Projekt in Friedberg: „Digitale Lösungen benötigen Vorbereitung. Jedoch kam uns in der Krise sehr zugute, dass wir ein modulares System anbieten und die Anpassung der Systeme mit unserer jahrelangen Erfahrung schnell umsetzen können.“ Die Entwicklung der Online-Plattformen und die Konfiguration der Verfahren seien in der Wetterauer Kreisstadt dadurch in kürzester Zeit und zudem noch kostengünstig realisiert worden. „Mit einem passgenauen Konzept und einer guten Öffentlichkeitsarbeit, vor allem seitens der Kommune, lassen sich dann auch hohe Beteiligungszahlen erreichen.“ Darüber hinaus war die Flexibilität der Verwaltung von großem Vorteil. Der geplante Beteiligungsprozess wurde kurzfristig umstrukturiert und zusätzliche „Mitmachmöglichkeiten“ geschaffen – wie etwa die Nutzung städtischer Litfaßsäulen und die Schaltung eines Anrufbeantworters.
Kernstück der Plattform ist eine sogenannte Open Crowd Map. Auf diesem beschreibbaren Stadtplan kann der Nutzer innerhalb des kommentieren und mit anderen Interessenten über die Vorschläge diskutieren. Um die vier zur Debatte stehenden Themenbereiche – Grünordnung, Nutzungssynergien, Nutzungsverteilung sowie Mobilität – abzubilden, hatte die Entwicklungsabteilung der wer denkt was GmbH diese interaktive Karte mit verschiedenen anklickbaren Schichten versehen. Parallel sind auf der Plattform die wesentlichen Informationen über das Projekt, das Gelände und die bislang diskutierten Planungen dargestellt.
Friedberg ist unter anderem als die Stadt bekannt, in der Elvis Presley seinen Militärdienst leistete. Seit dem Abzug der amerikanischen Soldaten im Jahr 2007 liegt das Militärareal im Süden der Stadt brach. Mit seinen 74 Hektar bietet das Gelände jedoch viel Potenzial, das nun entfaltet werden soll. Im Oktober vergangenen Jahres startete der Prozess mit einem „Tag der offenen Kaserne“, bei dem erste Anregungen aus der Bevölkerung gesammelt wurden. Diese Vorschläge und weitere eigene Ideen verdichteten die Fachleute später zu einem städtebaulichen Rahmenplan.
Die Stadt möchte das Kasernenareal in ein gemischt genutztes Quartier verwandeln. Vor allem bezahlbarer Wohnraum soll auf dem ehemaligen Militärgelände entstehen. Geplant sind zudem ein Elvis-Presley-Museum, ein Hotel, Einzelhandel, eine Sporthalle, ein neuer Feuerwehr-Stützpunkt, Kindertagesstätten, eine Grundschule sowie die Erweiterung des Campus der Technischen Hochschule Mittelhessen.
Über den Erfolg einer interaktiven Bürgerbeteiligung entscheiden verschiedenste Parameter. Marius Becker erläutert: „Zunächst einmal fordert der Nutzer die vollständige Transparenz über den Ablauf. Der Bürger will heute nicht mehr nur wissen, was entschieden wird, sondern auch wie.“ Die Menschen seien oft erst dann bereit zum Mitmachen, wenn sie die „Beteiligungs- und Rückkopplungsmöglichkeiten“ im Verlauf des Verfahrens genau kennen. „In Friedberg ist es gut gelungen, diese Spielregeln von Beginn an klar zu definieren.“ Noch wichtiger aber sei die Dokumentation des Prozesses, sodass Nutzer in der Lage seien, immer wieder nachzuvollziehen, wie die bisherigen Ergebnisse entstanden sind. Becker: „Wir sprechen hierbei von einem ,Beteiligungsgedächtnis‘.“ Die Stadt Friedberg will die Plattform deshalb auch im weiteren Verlauf des Planverfahrens immer wieder nutzen.
Wie stark das Corona-Virus Stadtentwicklungsprozesse in den Städten und Gemeinden bremst, hat das Berlin Institut für Partizipation in einer Umfrage unter 1700 Verwaltungsangestellten, Stadtentwicklern und Privatpersonen im April untersucht. Jörg Sommer, Direktor des Instituts, schildert die Ergebnisse im Magazin Polis Vision: „Viele Vorhaben pausieren oder werden ohne Partizipation vorangetrieben.“ Über drei Viertel der Befragten bestätigten, dass Veranstaltungen abgesagt werden mussten. Besonders bedauerlich sei, dass es in den meisten Kommunen nicht gelinge, diese kurzfristig durch Online-Beteiligungen zu ersetzen. Nur ein Drittel der Befragten nutze bislang überhaupt digitale Formate. In vielen Körperschaften gebe es kaum die dafür nötigen technischen, finanziellen oder personellen Ressourcen. Das habe zur Folge, so Sommers Beobachtung, dass „der Kontakt zwischen Politik, Verwaltung und Bürgern abreißt“. Das Institut plädiert daher für ein „Nationales Kompetenzzentrum Bürgerbeteiligung“ – nicht zuletzt um Partizipation auch bei Planungsprozessen und politischen Entscheidungen auf Landes- oder gar Bundesebene zu ermöglichen.
Gegenläufige Erfahrungen macht Wer denkt was, denn Lotichius und ihr Team stellen ein wachsendes Interesse an Internet-basierten Partizipationslösungen fest: „Digitale Beteiligungsformate haben durch die Corona-Pandemie vielerorts Aufwind erfahren. Das haben wir an der seit Mitte März deutlich erhöhten Nachfrage gemerkt – auch von kleineren Kommunen.“ Gespräche zeigten, dass diese sich der Relevanz einer kontinuierlichen Kommunikation durchaus bewusst sind. Online-Partizipationen seien aber nicht nur in Krisenzeiten eine gute Alternative, sondern auch insgesamt gesehen eine wichtige Ergänzung zu klassischen Formen. Dass „die Bürgerinnen und Bürger sich rund um die Uhr, von überall her in das Geschehen vor Ort einbringen und bei wichtigen Themen mitreden können“, sieht die Geschäftsführerin als entscheidenden Vorteil.
Kennwort: Naheimst
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Fotos: Stadt Friedberg; Photo Mix Company; Friedberg-mitmachen