Um die Corona-Pandemie einzudämmen, haben Bund und Länder in den vergangenen Monaten verschiedene Maßnahmen eingeleitet – von Schul- und Kitaschließungen über Kontaktbeschränkungen bis zur Schließung von Einzelhandel und Freizeiteinrichtungen. Zuletzt stand sogar kurzzeitig der komplette Stillstand für den öffentlichen Verkehr im Raum.
„Die Idee, den Bus- und Bahnverkehr auszusetzen, wurde letztlich nicht umgesetzt. Ob und wie häufig sich Menschen tatsächlich im Nah- und Fernverkehr anstecken, lässt sich auch schwer nachvollziehen. Trotzdem
musste der öffentliche Verkehr seit dem Beginn der Pandemie einen großen Rückgang der Fahrgastzahlen hinnehmen“, berichtet Farid Gambar, Forscher im Bereich öffentlicher Personen-Nahverkehr (ÖPNV) und Vorstand des Marktforschungsinstituts NHI2 AG, das Mitte 2020 eine Marktstudie zu diesem Thema durchführte.
Der Rückgang der Fahrgastzahlen lässt sich zum einen auf die Angst vor einer Ansteckung zurückführen. Zum anderen auch auf die zumindest zu Beginn der Pandemie geäußerten Empfehlungen aus der Politik, den öffentlichen Personennahverkehr zu meiden und auf den Individualverkehr umzusteigen. Hinzu kommen Faktoren wie die Möglichkeit zum Homeoffice oder der Wegfall von Veranstaltungen. Während des sogenannten Lockdowns im Frühjahr 2020 ging die Mobilität in Deutschland dann auch innerhalb einer
Woche um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück.
„Viele Verkehrsbetriebe reagierten damals sehr schnell mit einer Reduktion der Fahrpläne. Obwohl zu den unmittelbaren Maßnahmen auch die Einführung einer Maskenpflicht und die Desinfizierung der Fahrzeuge gehörten, verzichtete ein Großteil der Bevölkerung auf die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs“, erklärt Gambar und ergänzt: „In einer Marktstudie, in der wir von Mitte bis Ende Juni 2020 1000 Personen zu ihrem Nutzungsverhalten befragt haben, gaben gerade einmal 30 Prozent an, den ÖPNV in ihrer Stadt im gleichen Umfang zu nutzen wie vor der Corona-Krise. Die restlichen 70 Prozent der Befragten reduzierten die Nutzung – davon verzichteten 19 Prozent sogar komplett.“
Dabei zeigte sich, dass vor allem Menschen auf alternative Verkehrsmittel setzten, die schon vor der Pandemie mit den Leistungen des ÖPNV-Angebots ihrer Stadt unzufrieden waren. Für das Nutzungsverhalten des ÖPNV in der Pandemie war also weniger die Nutzungshäufigkeit vor der Krise
entscheidend, sondern vielmehr die Zufriedenheit mit dem öffentlichen Nahverkehr vor dem Corona-Ausbruch. Nach dem Frühjahrs-Lockdown wurden die Fahrpläne im Sommer wieder weitgehend auf den
Stand vor der Pandemie zurückgeführt – seitdem versucht der ÖPNV, die ursprüngliche Anzahl der Fahrgäste wieder zu erreichen. Nach dem ersten Lockdown gab es in vielen Städten wieder gut gefüllte Busse und Bahnen. Millionen Menschen sind jeden Tag auf den ÖPNV angewiesen, um zur Arbeit zu gelangen. „In der Branche geht man trotzdem davon aus, dass es Spitzen des Fahrgastaufkommens, beispielsweise die Rushhour, in der Form wie vor der Pandemie in Zukunft so nicht mehr geben wird“, weiß Gambar.
Es werden sich eher einzelne Tage herauskristallisieren, an denen die Fahrgastzahlen zu bestimmten Zeiten ansteigen. Hinsichtlich dieser zu erwartenden Entwicklung stehen Verkehrsbetriebe deshalb vor der Herausforderung, nicht nur das Tarif- und Ticketsystem neu zu gestalten, sondern auch mit weniger Einnahmen zu wirtschaften. „Es ist deshalb an der Zeit, dass sich der öffentliche Nahverkehr neu definiert. Es geht nicht länger nur darum, den Kunden von A nach B zu bewegen. Verkehrsbetriebe müssen gleichzeitig Wege finden, Begeisterung auszulösen“, so der ÖPNV-Forscher.
Unternehmen, die versuchen, allein durch pandemiebezogene Maßnahmen Kunden zurückzugewinnen, schöpfen nicht ihre vollen Möglichkeiten aus. Ergebnisse der NHI2-Marktstudie zeigen nämlich, dass es bei
Weitem nicht allein die pandemiebezogenen Maßnahmen sind, welche die Nutzungshäufigkeit stützen. So
gaben beispielsweise Personen, die vor der Pandemie unzufrieden mit den ÖPNV-Angeboten ihrer Stadt waren, zu 48 Prozent an, dass sie sich während der Nutzung in der Pandemie nicht sicher fühlten. Bei Menschen, die vor der Pandemie eher zufrieden waren, waren es hingegen nur 4 Prozent. Je höher vor der Pandemie die Gesamtzufriedenheit war, desto größer war auch das Sicherheitsgefühl während der Corona-Krise.
„Jede Aktion zur Steigerung der Kundenzufriedenheit erhöht somit gleichzeitig auch das subjektiv empfundene Sicherheitsgefühl der Menschen und ihre Bereitschaft, den ÖPNV wieder zu nutzen“, sagt Gambar. Im Bereich der Zuverlässigkeit stehen dabei vor allem die Fahrplantreue und die Anschlusssicherheit im Fokus der Kunden. Aufgrund vieler externer Ereignisse wie Unfälle oder Unwetter, die auf den Betrieb einwirken, lässt sich die Fahrplantreue oft nicht einhalten. Deshalb empfiehlt es sich für Verkehrsbetriebe hinsichtlich der Kundenzufriedenheit, die Anschlusssicherheit zu fokussieren. Fahrgäste, die trotz Verspätung ohne lange Wartezeiten an den Haltestellen ihr Ziel erreichen – auch über Umwege – sind zufrieden.
„Und selbst dann, wenn sowohl der Fahrplan als auch die Anschlüsse zusammenbrechen, gibt es ein Mittel, die Kundenzufriedenheit nicht vollständig zu verlieren: Information. Muss ein Fahrgast bei seinem Umstieg eine halbe Stunde warten, sollte ihm das zu Beginn dieser halben Stunde mitgeteilt werden“, so Gambar.
Kennwort: NHI2
Fotos: NHI2; Verkehrsverbund Stuttgart